Mittwoch, 29. Oktober 2014

Wo ist eigentlich die Flanke aus dem Halbfeld geblieben?

Sport   |   Taktik-Tisch 

Immer mit viel Effet: Willy Sagnol setzt
zur Flanke an
Noch vor einigen Jahren war sie allgegewärtig und Teil eines jeden Bundesligaspiels: Die weit geschlagene Flanke aus dem Halbfeld - das Synonym für ideenloses Aufbauspiel. Heute ist von dieser Klage nichts mehr zu hören. Warum eigentlich?


Willy Sagnol führt den Ball gemächlich am Fuß. Kurz hinter der Mittellinie sieht er sich um. Kein Mitspieler läuft in Position, kein Gegenspieler attackiert ihn. In Ermangelung echter Alternativen er aus halbrechter Position einen langen Ball in den Strafraum. Irgendeiner der Ballacks und Makaays da vorne wird schon hochsteigen und den Ball in Richtung Tor lenken.

Und tatsächlich funktionierte dieses Modell beim FC Bayern oft. Die Bogenlampen von Außenverteidiger Willy Sagnol waren gefürchtet, sein Counterpart Bixente Lizerazu stand ihm in dieser Hinsicht in Nichts nach. Auch andere Spieler, wie der Dortmunder Dede, machten die Flanke aus dem Halbfeld zu ihrem Markenzeichen. Grundsätzlich erfreut sich dieses Instrument allerdings keiner großen Beliebtheit. Die weiten Flanken sind für die Abwehr verhältnismäßig leicht zu verteidigen und für die Stürmer schwer zu verwerten. Sie wurden praktisch zum Ausdruck einer ideenlosen Offensive: Je mehr Flanken aus dem Halbfeld, desto uninspirierter das Angriffsspiel.

Und so gehörte zu Anfang des Jahrtausends das Beschweren über die Bälle aus dem Halbfeld zu jeder Stammtischdiskussion wie das Schimpfen auf den Schiedsrichter. Nun wird der Unparteische zwar immer noch durchaus frequent mit unschönen Verbalinjurien belegt, das Gezeter ob einfallsloser Flanken aus dem Halbfeld hat allerdings spürbar nachgelassen. Wie kam es dazu? 

Ohne Stürmer wurde es offensiver

Das vorherrschende System bis 2006 war das 4-4-2, wahlweise mit einer Raute, einer Viererkette oder zwei Offensiv- und zwei Defensivspezialisten im Mittelfeld. Oft führte das zu berechenbaren Offensivvarianten, die an wenigen kreativen Köpfen im Mittelfeld hingen. Kurioserweise war es die Reduzierung von zwei auf einen oder sogar gar keinen nominellen Stürmer, der das Angriffsspiel wieder belebte.

Groß war die Empörung als Spanien 2012 praktisch ohne echten Stürmer Europameister wurde. Die Kritiker hatten jedoch wenige Argumente auf ihrer Seite, waren die Spanier doch trotzdem - oder gerade deshalb - die offensivstärkste Mannschaft des Turniers. Die "Falsche Neun", die Taktik ohne formellen Stürmer, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen nämlich als wahrer Quell des quriligen Offensivspiels.  

Die "Falsche Neun" ist der verkappte Stürmer, der sich immer wieder ins Mittelfeld zurückfallen lässt und nicht statisch im Strafraum darauf wartet, vom Mittelfeld mit Bällen gefüttert zu werden. Dieses System erweiterte die Alternativen der Trainer in der Offensive: Mehr Spieler im Mittelfeld gleich mehr Möglichkeiten zum Spielaufbau. Außerdem sind die offensiven Außenbahnen im Gegensatz zum 4-4-2 fest besetzt. In der Vorwärtsbewegung wird aus dem System ohne Stürmer so ganz leicht ein 4-3-3. Mit den Flügelspielern und dem bei Bedarf üppiger besetztem Mittelfeld ist das schnelle Spiel bis zur Grundlinie leichter als zuvor. Und wer will noch aus dem Halbfeld flanken, wenn er sich bis zur Grundlinie kombinieren kann?

Der Linksverteidiger ist der neue Linksaußen

Hinzu kommt, dass den Außenverteidigern im modernen Fußball eine viel wichtigere Rolle zukommt als früher. Nicht zufällig wurde der gelernte Innenverteidiger Benedict Höwedes bei der Weltmeisterschaft als Schwachstelle im deutschen Team ausgemacht - waren seine Vorstöße auf dem linken Flügel doch denkbar harmlos. Auf die Spitze trieb es Pep Guardiola, der die Außenverteidiger beim FC Bayern in der Vorwärtsbewegung zu Offensivleuten erklärt. In der Rückwärtsbewegung müssen sie sich wieder in die Abwehrkette eingliedern.

Mit diesen Optionen auf den Flügeln sind die offensiven Außenpositionen besser - weil vielfach doppelt - besetzt den je. Hinzu kommt, dass viele Mannschaften inzwischen ein energischen Pressing an den Tag legen, sodass in der Gegnerischen Hälfte kaum Zeit dafür bleibt, sich den Ball in Ruhe für einen weiten Schlag zurecht zu legen. Und hat sich eine Mannschaft doch einmal in Handballer-Manier um den gegnerischen Sechzehner staffiert, wird lieber ganz Barcelona-like gewartet, bis sich eine Lücke auftut, um den Ball durchzustecken.

Der Fußball hat sich weiterentwickelt, das Aufbauspiel ist variabler geworden. Und zwischen keinem und drei Stürmer liegt manchmal nur eine veränderte Wahrnehmung. Natürlich gibt es die Flanke aus dem Halbfeld auch heute noch. Doch sie ist nur noch eines von vielen Stilmitteln im modernen Angriffsspiel.

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